Klub der Loewinnen Teil 4 By Spectator2 mailto: Propertiusweb.de Malú entdeckt die Bedeutungsvarietät eines Schimpfworts und ist damit beschäftigt, sich selbst zu finden. Carlos erhält Lektionen, die wehtun, aber vielleicht nützen. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- „Letzte Aktion der Löwinnen für heute: Gibt es hier irgendetwas Brauchbares?“ Lea schaute über den Küchentisch. „Dieses Gesöff wohl nicht. Und rauchen werde ich nie wieder.“ „Darf ich die letzte volle Wodkaflasche mitnehmen?“, bat Lisa. „Über die Kippen würde sich Laura freuen, aber die war ja heute nicht da.“ „Mir genugt eine halbe Schachtel – und eine Tute Pistazien“, erklärte Malú. „Vielen Dank euch auf jeden Fall!“ Sie ging ins Bad, um ihr Waschzeug zusammenzusuchen, packte es in ihren Schulrucksack und kehrte wieder in die Küche zurück. Anschließend verließen die Mädchen gemeinsam die Wohnung. An einer Kreuzung verabschiedeten Lea und Malú sich mit mehreren Umarmungen und Küssen von Lisa. Sie schauten der Freundin noch einige Zeit nach, um sicherzugehen, dass Carlos‘ Gäste nicht zurückgekommen waren. Als sie bei Lea zu Hause ankamen, waren die Lichter schon erloschen. Die Mädchen stellten ihre Stiefel in der Diele ab und schlichen zu Leas Zimmer. Lea zog die Schlafcouch aus und holte Bettwäsche, doch die Freundinnen dachten noch lange nicht ans Zubettgehen. Zuerst gingen sie nochmals in allen Einzelheiten den Kampf in Malús Wohnung durch. „Stolz können wir auf eines sein“, meinte Lea. „Wir sind kein einziges Mal zusammengestoßen. Bei dem wenigen Platz ein Wunder.“ „Ich kenne einen Film, in dem was Polizisten Räuber in einem Geschäft für Porzellan verprügeln – und so exakte, dass keine Vase kaputt ist.“ „Das schaffen wir auch noch. – Hast du dir schon überlegt, was du mit deinem Bruder anstellen wirst, außer ihn zusammenzuschlagen?“ „Noch nicht, aber mir wird schon noch etwas einfallen. – Aber zuerst du hast eine Umarmung verdient.“ Sie umarmte und küsste Lea. „Du als Freundin, das ist das Beste von Deutschland.“ „Aber ich habe etwas dafür bekommen: Dich als Freundin! Und ich freue mich, wie du jeden Tag stärker und selbstbewusster wirst.“ Lea erwiderte den Kuss. Sie unterhielten sich noch lange und schauten noch einige Kampfszenen auf Leas Laptop an, ehe sie einschliefen. Am nächsten Morgen erklärte Lea ruhig ihren Eltern, warum Malú bei ihr übernachtet hatte. Die akzeptierten und wunderten sich, dass Malú schon wieder so ruhig darüber sprechen konnte. „Ihre Tochter hat… Ich muss Lea Dank sagen. Ohne sie weiß ich nicht, was ich in der Nacht getan hätte.“ Kurz vor halb elf kam Malú nach Hause, wo Carlos schon heftig damit beschäftigt war, die Wohnung halbwegs in Ordnung zu bringen. Seiner Miene und der seiner Eltern nach hatte es vorher schon heftigen Krach gegeben. „Schau, was alles kaputt ist“, wies die Mutter sie an. „Wir zahlen es dir natürlich und ziehen es deinem Bruder vom Taschengeld ab.“ „Und bevor du schadenfroh bist, Chichita“, mahnte der Vater. „Ich hoffe, du lernst daraus und passt bei deiner nächsten Party besser auf. Glatte Böden kann man wischen, Teppiche muss man reinigen und das kostet.“ Malú machte sich daran, ihre Sachen durchzusehen. Außer den Schäden, die sie am Vorabend bemerkt hatte, waren Rotweinflecken überall, vor allem aber in einem ihrer BHs – offenbar hatten die Jungen es witzig gefunden, daraus Wein oder Sangría zu trinken. Immerhin war der Großteil ihrer Kleidung, ihre Bücher bis auf eines und der Rest ihrer Schminke intakt. Sie zeigte der Mutter das Kleid und den BH. „Zumindest das Kleid können wir nicht hier waschen. Ich hoffe, es wird überhaupt sauber. – Carlos, Mann, was habt ihr euch gedacht.“ „Ich habe doch gesagt, Mama, ich habe nicht gesehen, was die anderen machen.“ „Wenn dir das nicht aufgefallen ist, bist du blind gewesen“, schimpfte der Vater. „Jobangebot für dich: Losverkäufer bei der ONCE, beim Blindenverband“, lästerte Malú. „Halt die Klappe!“, giftete Carlos sie an und erschrak, als er in ihr Gesicht sah. Offenbar hatte er den Eltern nicht erzählt, wie die Party beendet worden war. Er schien auch keine bleibenden Verletzungen zu haben – Malú konnte sich nicht mehr erinnern, wo genau sie ihn getroffen hatte. Sie setzte sich ans Notebook, ließ ihre geliebten Classic Rock Alben laufen, chattete erst mit Lea und Laura, dann mit ihrer Freundin Elena in Spanien und lernte anschließend ein wenig Englisch, während sie Carlos beim Aufräumen zusah. Zweimal ignorierte sie seine Bitte, ihn doch den Schreibtisch wischen und darunter saugen zu lassen. Schließlich entschied sie sich allerdings, dass es besser war, ihn nicht beim Aufräumen zu stören. Was zu klären war, konnte sie nach dem Mittagessen mit ihm ausmachen. Carlos war allerdings schon fertig, ehe es Mittagessen gab und verzog sich ins Elternschlafzimmer, wo er sich am sichersten glaubte. Als die Eltern sich nach dem Mittagessen zur Siesta zurückzogen, wollte er aus der Wohnung flüchten, doch zu seinem Leidwesen standen seine Schuhe im Schuhschrank im Kinderzimmer und dort wartete auch seine Schwester auf ihn. Er hatte sich bemüht, sich anzuschleichen, doch obwohl Musik lief, hörte Malú ihn und stellte sich direkt vor die Tür. „Bevor ich dich gehen lasse, Brüderchen, müssen wir noch reden: Du hast versprochen, meine Sachen in Ruhe zu lassen.“ „Ich war das nicht. Ich weiß auch nicht, wer es war…“, brachte er hastig heraus. „Es waren deine Freunde, genauso wie die, die mich vergewaltigen wollten. Und du Feigling hast das alles zugelassen.“ „Malú, bitte!“ „Ein iberisches Mannsbild kämpft, wenn jemand seine Schwester angreift.“ „Malú, bitte! Ich hätte keine Chance gehabt. Du bist ja auch abgehauen.“ Er weinte beinahe. „Du hättest einen beschäftigt, während ich zwei andere fertiggemacht hätte und der Rest hätte es sich dann gemerkt. Du hättest es jedenfalls versuchen müssen, wenn du kein Angsthase wärst.“ Sie schlug zu. Carlos stand da, unschlüssig, ob er ausweichen oder sich verteidigen sollte und sicher, dass beides aussichtslos wäre. So bot er eine ideale Übungsfläche: Es gab keinen Nervendruckpunkt an seinem Körper, den Malú nicht in den nächsten Sekunden mit der Faust, der Handkante oder den Fingerspitzen traf. Mit nahezu fotografischem Gedächtnis hatte sie sich sämtliche empfindlichen Stellen am Körper sowie die jeweils schmerzvollste Attacke gemerkt und mit unbarmherziger Härte und Präzision schlug und stach sie zu, ohne eine einzige auszulassen, ob an den Schläfen, der Kinnspitze, der Kehle oder den Ellbogennerven. Carlos wand sich vor Schmerzen und hatte kaum die Kraft, um Gnade zu betteln. „Hör auf zu heulen, du Schwächling!“, bellte Malú und trat punktgenau in seinen Solarplexus. Carlos fiel um wie ein nasser Sack und blieb am Boden liegen. Sie aß Pistazien und sagte sich halblaut Englischvokabeln vor, immer mit einem Auge auf ihrem Bruder, während er bewusstlos dalag,. Kaum schlug er die Augen auf, sprang auch sie auf und kniete sich auf ihn. „Malú, bitte, ich tue es nie wieder. Ich mach, was du willst, aber hör auf!“ „Und das nächste Mal passiert das gleiche wieder.“ „Nein. Ich werde niemand mehr erlauben, an deine Sachen zu gehen oder gar dich anzumachen.“ Malú lachte höhnisch. „Das wirst du wieder tun, aus dem gleichen Grund, warum du jetzt jammerst und vorhin gar nicht versucht hast, dich zu verteidigen: Weil du ein Feigling bist, ein Schwächling, ein Mariquita!“ Sie grinste. Das war die Idee: Das spanische Schimpfwort Mariquita bedeutete eigentlich Marienkäfer, zu Menschen hieß es Schwächling, halbe Portion oder auch Schwuchtel. Malús Faust pfiff durch die Luft und mit der Präzision und Geschwindigkeit eines Hochleistungsgewehrs trafen ihre Fingerknöchel die empfindlichsten Stellen an seinem Kinn. Carlos war abermals bewusstlos. Malú stand auf, suchte die Reste ihrer Schminke zusammen, trug übertrieben stark Lidschatten, Wimperntusche und Lippenstift auf sein Gesicht auf und malte zur Krönung mit Lippenstift und Wimperntusche einen Marienkäfer auf seine Stirn. Anschließend fotografierte sie das Ergebnis und lud sofort das Bild auf Facebook hoch, wobei sie es mit dem Titel ‚Zwei Mariquitas‘ versah. Sie stellte leise die Musik an, lernte Englischvokabeln und stoppte die Zeit, bis ihr Bruder wieder aufwachte. Immerhin elf Minuten und 25 Sekunden waren es. Ängstlich schaute Carlos auf seine Schwester, die keine Regung zeigte. Er hatte Mühe, aufzustehen und zuckte sofort zurück, sobald Malú die Augen von ihrem Englischbuch abwandte. „Das reicht wohl, du Witzfigur!“, sagte sie kalt. „Es gilt weiter, dass ich in diesem Zimmer die Musik bestimme und an den Laptop gehe, wann ich will. Außerdem gilt ab jetzt: Wenn ich Besuch habe, mit dem ich ungestört reden will und dich aus dem Zimmer schicke, dann gehst du. Ist das klar?“ „Ja, was du willst, wenn du mich nicht mehr haust.“ „Auf die Knie und küsse mir den Fuß!“ Carlos leistete Folge, auch wenn es ihn Mühe kostete, es zu tun. Wieder hatte er bei jeder ihrer Regungen Angst. „Ach ja, und ein kleiner Tipp: Bevor ich aus dem Haus gehe, würde ich mich waschen, wenn ich du wäre.“ „Was hast du gemacht?“ „Schau in den Spiegel, dann weißt du es!“ Mühsam schleppte er sich ins Bad und Malú grinste, als sie sich sein Gesicht vor dem Spiegel vorstellte. Sie setzte sich wieder an den Laptop. Schon hatte sie die ersten Reaktionen: auf Deutsch wurde sie um Übersetzung von ‚Dos Mariquitas‘ gebeten, auf Spanisch gefragt, was genau passiert war, doch hier wie dort hatten ihre Freundinnen ‚Gefällt mir‘ angeklickt. Bereitwillig gab sie Antwort, was zur Folge hatte, dass Elena, die offenbar im fernen Moguer ebenfalls online war, ihr eine PN schickte: „Estás contando cuentos chinos, ¿Verdad? – Du erzählst Märchen, stimmt’s?“ und hinzufügte, sie würde auch niemandem anderen die Wahrheit erzählen. „Es la pura verdad – Es ist die reine Wahrheit“ antwortete Malú und gestattete der Freundin ausdrücklich, es weiterzuerzählen. An Lea schrieb sie, der Kampf selbst sei es wegen seiner Einseitigkeit und Einfachheit nicht wert gewesen, gefilmt zu werden. „Obwohl – als Lehrfilm, wie man die empfindlichen Stellen am besten trifft; naja, die Chance werde ich wieder haben“, fügte sie hinzu. Die nächste Woche über hatte sie die Chance jedoch nicht, da Carlos sich so selten wie möglich zu Hause aufhielt und wenn, dann seiner Schwester aufs Wort gehorchte. Er sagte nichts, wenn um Punkt halb sieben der Wecker läutete, Malú ihre zwanzig Liegestütze machte, anschließend ihren Rucksack voll Bücher stopfte und mit jeder Hand dreißigmal hob, duschte, wiederkam, sich schminkte und anzog, während er gerne weitergeschlafen hätte, ertrug es, dass abends stets Classic Rock statt Rap lief und das Notebook stundenlang besetzt war, weil seine Schwester chattete und fragte sogar um Erlaubnis, am Freitagabend zwei Freunde einzuladen, obwohl er wusste, dass sie dann nicht da sein würde. „Von mir aus“, antwortete Malú gnädig. „Aber wehe, hinterher ist etwas kaputt.“ Lisa schimpfte, da Malú vom eigentlichen Kampf kein Video gemacht hatte: „Eine Löwin hält ihr Versprechen. Strafe muss sein!“ Im Kampf gegen sie schlug Lisa besonders hart zu, ignorierte Malús Aufgabe, schlug auf mehrere empfindliche Stellen und setzte zum Schluss eine Kralle so an Malús Kehle an, dass diese bewusstlos wurde. Wie ihr Bruder gegen sie blieb sie minutenlang liegen. Der Unterschied war lediglich, dass sie sich immerhin gewehrt hatte und bei Lisas schmerzhaften Attacken ruhig geblieben war. Dies lobten die Freundinnen auch. Malú versprach, demnächst wieder ein Video zu liefern, auf dem sie Carlos verprügelte. Laura allerdings warnte sie: „Normalerweise können wir damit rechnen, dass Jungen nicht zugeben, von Mädchen verprügelt worden zu sein, schon gar nicht von der kleinen Schwester. Wenn du es aber zu sehr ausreizt, kann sich das ändern. Und du weißt, was offiziell passiert, wenn du deine Kampfkunst zum Angreifen benützt – oder ist das in Spanien anders?“ Malú schüttelte den Kopf. „Ich sage nicht, morgen oder nach morgen, aber irgendwann werde ich es tun können.“ Sie hatte vor, an Carlos das Ergebnis ihres Krafttrainings zu testen. Gegen Lea, aber auch gegen Laura und Lisa, hatte sie beim Armdrücken ebenso wenige Chancen wie im Kampf. Sie musste auch anerkennen, dass die Oberarme der beiden letzteren zwar kaum mehr Umfang hatten, aber bei weitem härter waren als ihre eigenen. Carlos schätzte sie schwächer ein als ihre Freundinnen, aber Kraft hatte er: Er hatte schon mit sechzehn als Costalero eine Prozessionsfigur mitgetragen; die Belastung pro Person betrug dabei immerhin etwa fünfzig Kilo. Zudem hatte er lange Handball gespielt und einen Bombenwurf. Der Grund, warum er im Kampf kein echter Gegner für sie war, lag neben ihren Kenntnissen in ihrer bei weitem größeren Agilität. Sie erkannte an, dass am Freitag die Wohnung in Ordnung war und forderte ihn am Samstagvormittag zum Armdrücken heraus. „Um ein Bier, einverstanden?“, schlug er vor. „Einverstanden!“ Sie setzten sich einander gegenüber und drückten. Lange bewegte sich nichts. Carlos war anzusehen, dass er seine Schwester wieder einmal unterschätzt hatte. Zehn Minuten bewegte sich kaum etwas, dann gewann Malú einen leichten Vorteil, kurz darauf Carlos. Über zwanzig Minuten hatten sie gedrückt und beide schwitzten, als Malús Kraft nachließ. Langsam, aber unausweichlich, drückte Carlos ihren Arm nieder. „Glückwunsch, Brüderchen! – Nochmal mit links, wieder um ein Bier?“ Carlos wollte sich keine Blöße geben. Diesmal war die Sache eindeutiger: Nach zwei Minuten war Malú klar im Vorteil, wenige Sekunden später lag der Arm ihres Bruders auf der Tischplatte. „Tja, ich habe eben auch links ein bisschen Kraft!“ „Gratulation! Dann trinken wir eben gemeinsam ein Bier, am Sonntagnachmittag oder so.“ „Müsste gehen.“ Nach dem Mittagessen kam Lea zu Besuch, um mit Malú Physik zu lernen, genauer gesagt, es sich von dieser erklären zu lassen. Kaum hatten sich die Mädchen begrüßt, warf Malú ihren Bruder aus dem Zimmer. Carlos zog es vor, sofort zu gehorchen, worauf Lea den Daumen hob. „Gut erzogen!“ „Der merkt sich, wer hier die Chefin ist. Aber jetzt los!“ Malús Vorbereitung hatte darin bestanden, die deutschen Begriffe zu lernen. Inhaltlich waren das Ohmsche Gesetz und die elektromagnetische Induktion für sie nie ein Problem gewesen und im letzten Jahr in Spanien hatte sie sich auf weit höherem Niveau damit auseinandergesetzt. Nach einer guten Stunde glaubte allerdings auch Lea, dass sie alles verstanden hatte. „Eine Pause und dann noch einmal kurz Übungsaufgaben, okay?“, schlug sie vor. „Okay. – Kaffee?“ „Nachher. Erst einmal ein bisschen Sport. Zeig mal, ob du den Schulterwurf noch kannst.“ „Okay, los!“ Die Mädchen stellten sich einander gegenüber auf. Lea attackierte mit der Faust und Malú musste versuchen, sie zu packen und mit einem Judotrick zu schultern. Der Trick war für sie neu gewesen, doch hatte sie ihn sich gemerkt und durch ihre Schnelligkeit hatte sie keine Probleme, auch als Lea das Tempo erhöhte. „Das wird. Super, Malú! Würfe sind wichtig, wenn dir einer zu nahe kommt. – Jetzt machen wir mal das Umgekehrte: Du greifst mich an. Faust- oder Handkantenschläge, egal. Es geht vor allem darum, wie du fällst.“ Malú schlug zu, Lea parierte den Schlag, Malú schlug nochmals zu und wurde nun geschultert, doch landete sie sicher auf den Füßen. Auch beim zweiten und dritten Mal hatte sie keine Probleme. Bei vierten Mal attackierte sie Lea von hinten mit einem Handkantenschlag. „Stark! Aber wenn du ernst machen willst!“ Lea attackierte abwechselnd links und rechts, um Malú das Ausweichen zu erschweren. Im engen Zimmer hatte diese wenig Chancen, ihre Schnelligkeit auszuspielen und so bekam Lea die Möglichkeit, mit der Faust voll zuzuschlagen. Malú konnte nur noch nach hinten ausweichen, doch Lea hob sie geschickt mit einem Fußfeger von den Beinen. Am Boden war sie schnell über Malú und setzte einen Würgegriff an. „Okay, ich gebe auf.“ Lea half ihr hoch. „Nicht schlecht, aber kämpfen auf engem Raum musst du noch üben.“ „Ich weiß. Aber ich werde das noch besser lernen. – Aber jetzt wir verdienen wirklich Kaffee.“ Sie ging zur Tür und hörte draußen schnelle Schritte. Als sie die Tür öffnete, war im Gang niemand mehr zu sehen. Sie überlegte noch, ob sie es ignorieren oder Carlos bestrafen sollte. Lea ließ sich nicht anmerken, ob sie etwas mitbekommen hatte. Sie sah der Freundin interessiert beim Füllen des Espressokännchens zu und ließ sich in der folgenden Unterhaltung eher über die Schule und mögliche künftige Aktionen aus. „Im Winter ist es nicht so einfach. Da gibt es wenige Cliquen, die ihre festen Plätze im Freien haben und die, die es gibt, kennen uns schon. Aber Laura hat mir gesagt, sie hat schon etwas im Auge.“ „Ich hoffe!“ Malú nahm Kanne und Tassen. „Links oben gibt es Schokolade. Nimmst du, bitte.“ Sie gingen wieder ins Kinderzimmer, tranken Kaffee und aßen Schokoladenkekse. Carlos hatte die Zeit, die sie in der Küche gewesen waren, genutzt, um sich anzuziehen und wegzugehen. Malú berichtete von Elenas Unglauben, als sie das Foto des geschminkten Carlos im Internet gesehn hatte. „Meine beste Freundin denkt, ich luge.“ Sie kicherte. Lea verzog das Gesicht. „Meine espanische beste Freundin denkt es.“ „Tja, und deine deutsche beste Freundin kennt dich schon besser. Zum Abschied noch eine Runde?“, schlug Lea vor und half Malú beim Abräumen. Diese hatte sich eine Strategie, auf engem Raum auszuweichen, zurechtgelegt: Sie zog den Kopf ein oder wich nur leicht zur Seite aus, wenn Lea attackierte. Diese wählte ihre Position jedoch geschickt so, dass Malú keine Möglichkeit hatte, weit auszuholen. Zwei Schläge der Gastgeberin knallten hart auf ihre angespannten Bauchmuskeln, fügten Lea aber keinen erkennbaren Schaden zu. Endlich hatte Malú Platz für eine Beinattacke, doch Lea konnte ausweichen, attackierte ihrerseits mit dem Bein, Malú wich aus, jedoch genau in einen Handkantenschlag von Lea, der sie zu Fall brachte. Lea fixierte sie schnell genug, dass der Kampf entschieden war. „Die Schere, einer der typischen Löwinnenangriffe“, kommentierte sie. „Hatte bisher eine Erfolgsquote von hundert Prozent. Vor allem auf kleinem Raum eine todsichere Waffe.“ „Zeigst du mir nochmal, bitte?“ „Gern. Ist ziemlich kompliziert, weil man sehr reaktionsschnell sein und seinen Körper hundertprozentig beherrschen muss. Aber das kannst du ja beides. Also, kurz erklärt: Du trittst, der andere muss ausweichen. In dem Moment musst du entscheiden: Bei größeren Faust in den Bauch, bei kleineren oder solchen, die sich ducken, Faust oder Handkante zur Kehle – und zwar, wenn du mit dem rechten Fuß getreten hast, die linke Hand und umgekehrt. Die Kunst ist, schnell zu sehen, was der andere macht.“ Lea vollführte die Bewegungen langsam. „Und jetzt du!“ Malú trat mit dem linken Bein, Lea wich aus und duckte sich leicht, Malú entschied sich für einen Faustschlag, den Lea mit ihrem hochschnellenden Arm unterband. „Super fürs erste Mal! – Einen ganz kleinen Tick hast du zu lang zum Entscheiden gebraucht. Und du hast gleich auch den Gegentrick gesehen: Leicht nach unten – niemand kann mit beiden Füßen so schnell hintereinander zutreten und wenn du den Kopf einziehst, ist die Zielscheibe für die Arme des anderen kleiner – und seitwärts drehen, damit dein Solarplexus sicher ist. Der andere muss dann von oben angreifen und das kannst du mit dem Arm verhindern. Dann kommt es nur noch darauf an, wer schneller ist.“ Sie übten die Schere noch dreißig oder vierzig Mal, bis Malú sie zu Leas Zufriedenheit anwenden und abblocken konnte. Danach verabschiedeten sie sich ausgiebig voneinander. Am Abend rief Lea nochmals an: „Lisa und Laura sind mit ihren Typen unterwegs – die Lisa hat scheinbar doch den richtigen gefunden. Hast du Lust, herzukommen? Ich bin irgendwie nicht in der Stimmung, allein wegzugehen. Wenn deine Eltern nichts dagegen haben, kannst du auch hier übernachten. Meine erlauben es.“ Malús Eltern erlaubten es ebenfalls und Carlos würde sich sicher sogar freuen, wenn er das Zimmer bis zum nächsten Vormittag für sich hätte. Die Mädchen schauten zusammen einen Film mit Michelle Yeoh, den Lea aus dem Internet heruntergeladen hatte. Viele der Techniken beherrschten sie selbst, einige spielten sie nach. Der Abend endete engumschlungen gemeinsam in Leas Bett. Erst als Malú aufwachte, löste sie sich aus der Umarmung und ging hinüber zum Sofa. Sie schaute die schlafende Lea an, unfähig, selbst wieder einzuschlafen. So nah wie ihr war sie nicht einmal Elena gekommen. Begrüßungs- und Abschiedsküsse auf den Mund waren schon nichts Außergewöhnliches mehr. Dazu Leas Reaktion, als Malú Elena als beste Freundin bezeichnet hatte. War Lea nur aus Frust nicht mehr ausgegangen? Oder sah sie in ihr, Malú, mehr als eine gewöhnliche beste Freundin? Und wie stand sie selbst dazu? Bisher hatte Malú noch keinen Gedanken daran verwendet, sie könne lesbische Neigungen haben. Andererseits hatte sie auch noch keinen festen Freund gehabt. Herumgeknutscht hatte sie schon einige Male mit verschiedenen Jungen, es hatte auch Spaß gemacht, doch immer war es geschehen, als sowohl sie als auch der jeweilige Junge schon angetrunken und auch sonst aufgekratzt waren und nie hatte es gedauert. Andererseits: Warum hatte sie bisher noch nie den Reiz verspürt, mit einem anderen Mädchen intim zu werden? Bei Lea hatte sie solche Gefühle, das war sicher. Doch wie weit wollte sie gehen? Sie sprach am nächsten Morgen nicht mit Lea darüber. Lea küsste sie wach, sie trainierten miteinander, umarmten und massierten sich gegenseitig, beim Frühstück ließen sie sich nichts anmerken, danach brachte Lea sie nach Hause und sie küssten sich zum Abschied. „Schön, dass du wieder da bist“, empfing Carlos sie. „Habe mir schon Gedanken gemacht.“ „War eine ziemlich spontane Entscheidung, bei Lea zu übernachten. Und du?“ „Ach, nichts Besonderes. Habe mich mit ein paar Freunden herumgetrieben.“ „Egal. – Du wolltest ja gestern sehen, was wir getrieben haben, oder?“ „Wie?“ „Na, hast du gehorcht oder nicht?“ „Ne… Tut mir leid.“ „Gut, du sollst es sehen!“ Sie packte Carlos, sodass er auf den Zehenspitzen stand, ließ ihr Knie vorschnellen und schulterte ihn. Er schaffte es nicht mehr, sich abzurollen, sodass er schmerzhaft fiel. „Dein Glück, dass es nichts Geheimes war!“ Fürchterlich der Gedanke, Carlos könnte sie in inniger Umarmung mit Lea sehen! Kaum eine Drohung der Welt könnte ihn davon abhalten, das weiterzugeben. Den Nachmittag verbrachte sie tatsächlich mit ihrem Bruder. Der kam, als die Gläser auf dem Tisch standen, gleich zur Sache: „Sag mal, Malú, ich gebe zu, ich habe keine Chance gegen dich und ich habe mich blöd benommen, aber warum machst du mich so fertig? Das mit dem hochgeladenen Bild und das gestern, als du mich für Stunden aus unserem Zimmer geworfen hast?“ Malú grinste. Ein geschickter Schachzug, das musste man ihm lassen. Unter vier Augen rechnete er mit Prügeln, wenn er sie den Eltern oder seinen Freunden verpetzt hätte, dann hätte er auch gestehen müssen, dass er gegen sie chancenlos war, was seinen Stolz verletzt hätte. Hier verstanden die meisten Leute kein Spanisch und Malú konnte nicht einfach zuschlagen, ohne dass es auffallen würde. „Warum machst du meine Party kaputt? Bin ich dein Bruder oder nicht?“ „Tja, die Antwort könnte sein ‚Weil ich kann‘ oder ‚aus Rache‘. Das ist es aber nicht nur. Ich weiß, wer ich bin und woher ich komme. Und einer Andalusierin geht es gegen den Strich, eine Party mit Gewalt zu beenden anstatt mitzufeiern und ihre Familie ist ihr heilig. Dabei bist du keine Ausnahme: Wenn jemand dich mobbt oder verprügelt, helfe ich dir. Wenn du willst, kann ich dir auch ein paar Tricks zeigen. Und falls in fünfzehn oder zwanzig Jahren ich gut bezahlte Ingenieurin bin und du arbeitslos, werde ich dafür sorgen, dass du und deine Kinder nicht hungern müssen, so wie Onkel Pedro uns geholfen hat, als Papa keine feste Stelle hatte. Nur Respekt habe ich keinen mehr vor dir. Und ich sage dir eines: Du musst dich schwer anstrengen, dass sich das wieder ändert. Und ich sage dir noch eines: Den Respekt vor dir habe ich nicht verloren, als du die Deutschprüfung versiebt hast, auch nicht, als ich dich zum ersten Mal k.o. geschlagen habe und auch nicht, weil ich mein eigenes Geld verdiene und du nicht.“ „Sondern?“ „Sondern bei deiner Party: Du hast nichts unternommen, als deine sogenannten Freunde mich angemacht und meine Sachen kaputtgemacht haben. Nicht einmal gesagt, ‚lasst das‘ oder so. Und ich gebe zu, ich war sauer und als ich mit meinen Freundinnen wiedergekommen bin, wussten wir, dass es zu einer Schlägerei kommen kann und hatten auch Lust darauf. Trotzdem hätten wir normal mitgefeiert, wenn wir nicht gleich so angemacht worden wären oder wenn du oder irgendjemand von euch uns geholfen hätte. Den restlichen Respekt habe ich am nächsten Tag verloren: Wenn du ein Mann wärst, hättest du dich entschuldigt oder gesagt, das war Rache oder so – oder dich gewehrt. Aber du bist ein Feigling, der immer dem Stärkeren nachläuft. Carlitos, vor einem schwachen Bruder oder einem erfolglosen kann ich immer noch Respekt haben, vor einem feigen und faulen – nein!“ Das saß. Carlos schwieg einige Zeit. Dann antwortete er: „Du weißt nicht, was im Deutschkurs und in der Werkklasse abgeht. Richtig asoziale Typen sind das. Die Prüfung werde ich schaffen, kein Problem. Unterricht, der den Namen verdient, findet dort nicht statt. Und die Typen denken bei Frauen immer nur an das eine und viele Mädels machen mit.“ „Na, dann wissen deine Kumpane ja, dass deine Schwester nicht mitmacht. Und du – wenn du sagst, du schaffst die Prüfung sowieso und der Unterricht ist unsinnig, dann nutz die Zeit anders! Ich sag dir eins: Alles, was ich in Mathe und Physik in diesem Schuljahr gemacht habe, ist, die deutschen Begriffe zu lernen. Trotzdem habe ich bessere Noten als die meisten anderen. Was mach ich also in der Zeit, in der andere Mathe und Physik lernen? Zum Beispiel, noch besser Deutsch lernen, zum Beispiel, Englisch nachlernen – da sind die Deutschen um so viel besser wie wir in Mathe – zum Beispiel trainieren, zum Beispiel Jobben, zum Beispiel mir überlegen, wie es nach der Realschule weitergeht. Das kannst du alles auch machen. Oder weißt du, was du machen willst, wenn du den Deutschkurs geschafft hast? Oder hast du dich mal dafür interessiert, was deutsche Schüler auf diesem Niveau können müssen?“ „Malú, du redest wie Papa.“ „Ich rede wie ich. Und ich meine es dir gut. Ich will, dass es dir gutgeht, dass du unter normalen Leuten akzeptiert wirst, nicht unter Asozialen herumlaufen musst und später einen guten Job bekommst. Und ich rede wie jemand, der dir mit Deutsch und Englisch helfen oder Tipps für nach der Prüfung geben kann – ich hab dir nie verboten, mich um Hilfe zu bitten. Kurzfristig geht es für dich darum, ob ich dir helfe oder wir nebeneinander her leben und du regelmäßig Prügel bekommst, langfristig noch um viel mehr. Ich will dir helfen, aber dass du der Chef bist, war einmal und auch gleich zu gleich. Die Chefin bin und bleibe ich, Punkt.“ Nach einer langen Pause fragte er leise: „Willst du das wirklich tun?“ „Was?“ „Mir ein paar Karatetricks beibringen und mich bei Englisch abhören. – Ich bin nicht wie du, ich brauch jemand, der mir in den Arsch steigt. Nenn mich feige und faul, aber wenn du ernst meinst, was du sagst, dann bitte, bitte hilf mir.“ „So kommen wir doch zusammen. Gern. Allerdings eines: Kampkunsttraining kann wehtun – ich habe heute noch den Körper voller blauer Flecken – und wenn du in Englisch nicht ordentlich lernst, gibt es jedes Mal eine Strafe.“ „Danke! Du bist doch eine liebe Schwester!“ Er stand auf und umarmte sie. „Apropos Strafe“, sagte sie, als er wieder saß. „Ich weiß schon, warum du hier reden wolltest, wo ich nicht zuschlagen kann und niemand uns versteht. – Aber täusch dich nicht!“ Sie rammte ihm den Daumen in die Handwurzel, sodass er aufschrie. – „Wenn ich dir wehtun will, schaffe ich das, und zwar immer und überall und wenn ich will, auch so, dass es niemand sieht.“